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Forschungsprofil

Beschleunigung, Zeitverdichtung und Effizienz gehören zu den wichtigsten Leitfiguren unserer Zeit. Ihre Effekte verändern unsere Arbeitswelt, tragen zur globalen Umverteilung von wirtschaftlichen Ressourcen bei und lassen die Unruhe zum Signum der Moderne werden. Damit jedoch, so die Ausgangsthese des SFB 1015, wird Muße nicht zu einer historisch überholten Kategorie, sondern gewinnt im Gegenteil eine neue gesellschaftliche Bedeutung. Gerade Erfahrungen der Zeitverdichtung führen zu einem grundsätzlicheren Nachdenken über Freiräume in Gesellschaft und Wissenschaft, über Potentiale für Kreativität und Innovation, die sie freisetzen können, und über diejenigen anthropologischen Grundfragen, die in dem durch Muße erfahrenen Spannungsverhältnis zwischen Produktivität und Freiheit sichtbar werden.

Ein wesentliches Kennzeichen von Muße ist dabei ihr transgressiver Charakter. Muße überschreitet auf spannungsreiche Art und Weise Gegensätze wie Arbeit und Freizeit, Beschleunigung und Entschleunigung, Tätigkeit und Untätigkeit. Die für Muße charakteristischen Freiheitserfahrungen bleiben deshalb nicht isoliert und auf die Zeiten der Muße beschränkt, sondern können auf den Alltag zurückwirken – durch die Eröffnung eines Raums zur kritischen Reflexion, durch die Einübung neuer Erfahrungsweisen oder schon allein durch die Inkongruenz der begrenzten Autonomieerfahrung in Muße mit den häufig den Alltag prägenden Erfahrungsweisen der Zweckbestimmtheit. In Muße wird deshalb stets auch das Verhältnis von individueller Freiheit und gesellschaftlicher Zweckbestimmung verhandelt, und es ist stets gesellschaftlich umstritten, wem unter welchen Umständen Muße zukommt und wie sich Muße und Produktivitätsnotwendigkeit zu einander verhalten.

Der SFB 1015 untersuchte Kulturen der Muße systematisch, historisch und empirisch und rückte dabei die gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Aspekte des Themas noch stärker als bisher ins Zentrum. Während in der ersten Förderphase (2013 – 2016) schwerpunktmäßig ein geistes- und sozialwissenschaftlicher Zugriff auf historische Gegenstände erfolgte, wurden in der zweiten Förderphase (2017 – 2020) auch vermehrt Gegenwartsphänomene beleuchtet – und zwar aus der Perspektive eines noch breiteren Fächerspektrums. Die Analyse sehr unterschiedlicher historischer und gesellschaftlicher Praktiken und Diskurse sollte die heutige Debatte um die Bereitstellung und Verwendung von Zeitressourcen schärfen, indem sie die anthropologischen Grundfragen, die mit ihr verbunden sind, erkennbar und genauer fassbar machte.